Neue Ansätze zur hybriden Produktionsplanung und -steuerung

„Sind unsere im Kern 60 Jahre alten PPS-Systeme noch geeignet?“ Diese Frage beantwortete Professor Dr. Markus Schneider, Wissenschaftlicher Leiter des Technologiezentrum Produktions- und Logistiksysteme (PULS) am 29. September 2020 den rund 20 Teilnehmenden am TZ PULS in Dingolfing. Trotz des weit verbreiten Einsatzes von Systemen für die Produktionsplanung und -steuerung (PPS) ist die Termintreue der Unternehmen oft nicht zufriedenstellend.

Die Ausgangsthese: Die beinahe 60 Jahre alte, hierarchisch-sequenzielle Vorgehenslogik ist nicht mehr für heutige Produktionssysteme geeignet. Entsprechend wird eine Anpassung der alten Denk- und Vorgehensweisen bei der Einführung von PPS-Systemen notwendig.  Professor Schneider entwarf für diese Anpassung einen Vorschlag einer hybriden PPS, die einen zentralen softwaregestützten High-Level-Planungsansatz mit einem dezentralen Steuerungsansatz verbindet. Diesen neuartigen Lösungsbaustein, den sogenannten „Obeya“, konnten die Teilnehmenden unter Einhaltung eines strengen Hygienekonzepts live in der Lern- und Musterfabrik besichtigen.

Was ist ein PPS-System?

Unter Produktionsplanungs- und Steuerungssystemen (PPS-Systemen) werden Softwaresysteme verstanden, die den Anwender in der operativen Planung und Steuerung des Produktionsgeschehens unterstützen und die damit verbundene Datenverwaltung übernehmen. Das PPS-Modul erlaubt u. a. Fertigungsaufträge, Kapazitäten, Termine und Maschinen im Blick zu behalten und versucht den Zielkonflikt zu bewältigen, einerseits Kapazitäten optimal auszulasten und andererseits eine hohe Flexibilität bei niedrigen Kosten sicherzustellen. Das Ziel: die Realisierung kurzer Durchlaufzeiten, die Einhaltung der vereinbarten Lieferzeiten, die Gewährleistung eines optimalen Bestands sowie die wirtschaftliche Nutzung der verfügbaren Betriebsmittel.

Das Problem: Systemgestaltung ist heute nicht Aufgabe der PPS

Doch wo liegt die Problematik? Entscheidende Parameter, wie die Verteilung und Terminierung der Aufträge (Planungsvorgehen) des zu steuernden Produktionssystems werden Professor Schneider zufolge nicht hinterfragt. Denn das passende PPS-Konzept wird auf Basis von Faktoren wie der Art des Teileflusses, der Material- und Produktkomplexität und der Schwankungen des Kundenbedarfs ausgewählt, mit der Zielstellung, die IST-Situation möglichst detailgetreu abzubilden.

„Dass wir die Systemgestaltung nicht als Teil des PPS-Systems verstehen, kann Auslöser eines erheblichen Potenzialverlustes sein“, so Prof. Schneider. Ihm zufolge wird die Komplexität der Produktion somit lediglich in das Produktionssystem verlagert. Dazu kommt die oft mangelnde Qualität der Eingangsdaten (z. B. Stücklisten) und die daraus resultierende „Fehlerfortpflanzung“ in den Datenbeständen. Betroffen sind, nach Einschätzungen von Herrn Prof. Markus Schneider, 20-30% der eingespeisten Daten – je nach Unternehmen. Zusätzlich erschweren Überplanungen der tatsächlich verfügbaren Kapazitäten sowie der Umstand, dass bis zu 95% der Durchlaufzeiten auf Basis von Arbeitsplänen grob geschätzt werden, eine termingerechte Produktion.

Lösung: Lean Factory Design

Zur Realisierung eines optimierten PPS-Systems bedarf es der vereinfachten Gestaltung des zu steuernden Systems. Als Gestaltungsansatz für die Produktionsplanung und -steuerung der Zukunft wurde in der Lern- und Musterfabrik am TZ PULS in Dingolfing eine Kommunikationszentrale (Obeya) aufgebaut. Der große Raum, japanisch „Obeya“, kombiniert analoge Lean-Methoden mit digitalen Werkzeugen (Ortungssystemen, KVP-Tools) und veranschaulicht, wie die Produktion auf Basis von Lean-Kriterien einfacher gestaltet und über Shopfloor Management dezentral gesteuert werden kann.

Folgende Maßnahmen unterstützen Sie laut Prof. Schneider, Ihr PPS-System zu verbessern:

 1. Systemgestaltung als Teil der PPS

Schaffen Sie ein gesamtheitliches Systemverständnis im Unternehmen und reduzieren Sie die Komplexität zur Verbesserung der Steuerbarkeit des Systems. Essenziell hierfür sind u.a. flache Stücklisten (Auflösung der Baugruppen) sowie die Identifikation der Engpässe. Indem der Engpass geplant und die Auswirkungen auf andere Teilprozesse simuliert werden, lassen sich die tatsächlich verfügbaren Kapazitäten ermitteln und die damit einhergehende Planung vereinfachen. Zudem lassen sich Prozessprofile zur komplexitätsreduzierten Planung nutzen, anstelle von Arbeitsplänen. So entfallen unternehmenspolitische sowie für die Planung irrelevante Informationen (z. B. Vereinbarungen über Arbeitspausen) und eine ganzheitliche Betrachtung der Prozesse wird möglich. Das Resultat: Die gesamte Durchlaufzeit wird abbildbar. Gleichzeitig reduziert die Bildung von Produktfamilien die variantengetriebene Steuerungskomplexität der Systemteile. Beispielsweise lassen sich mehrere Arbeitsplätze zur U-Zelle oder Produktionsinsel zusammenfassen, sodass verzichtbare Wege vermieden und Rüstzeiten verkürzt werden.

2. Verbesserung der Datenqualität

Das Optimieren der Datenqualität ist ein dynamischer, kontinuierlicher Verbesserungsprozess, der sämtliche Geschäftsprozesse betrifft. Da die Aktualisierung und Pflege der Daten zumeist mit einem erheblichen Aufwand einhergehen, empfiehlt es sich bei der Pflege der Prozessprofile und der Planung zunächst auf die kritische Kette zu konzentrieren. Die kritische Kette bildet den langwierigsten Prozess ab. Lassen sich die Prozesse – und damit das Datenmanagement – der kritischen Kette beherrschen, so erfolgen, per Definition, alle weiteren Teilprozesse schneller.

3. Mit Industrie 4.0 Transparenz in Echtzeit schaffen

Nutzen Sie Industrie 4.0, um ein möglichst reales Abbild der Produktion in Echtzeit zu erhalten. Die wichtigsten Planungswerte zur Verbesserung des PPS-Moduls sind, laut Herrn Prof. Schneider, Durchlaufzeit und verfügbare Kapazität.

4. Aufbau einer Lernstrategie

Führen Sie eine Lernstrategie für das PPS-System ein, um dieses kontinuierlich zu verbessern. Ein Plan-Ist-Vergleich, bei dem geplante Werte den aktuellen Ist-Werten gegenübergestellt werden, kann hier als Lernansatz genutzt werden. Indem mögliche Ursachen für erkannte Abweichungen zu einem bestimmten Zeitpunkt identifiziert und im Shopfloor-Management in Echtzeit bereinigt werden, kann zu einem beliebigen anderen Zeitpunkt der Fortschritt (Lernkurve) wiedergegeben werden. Dies ermöglicht die Ableitung von Maßnahmen zur gezielten Verkürzung der Planzeiten und zur Stabilisierung der Durchlaufzeit. Der Vorteil: Verbesserung der Termintreue und Kosteneinsparungen.

5. High-Level MRP und hybrider Steuerungsansatz mit „Obeya“

Planen Sie nur das Wichtigste. „In der Produktionsplanung immer weiter in die Detaillierung rein zu gehen, ein System immer weiter aufzusplitten und genauer planen zu müssen, das ist vermeintlich der richtige, aber eigentlich der falsche Weg“, so Prof. Markus Schneider. Es bedarf einer zentralen Produktionsplanung auf einem sehr hohen Aggregationsgrad (High-Level MRP). Gleichzeitig wird eine dezentrale Feinplanung erforderlich.

 

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